Olcay
„Wenn ich sage, ich bin muslimisch und schwul und alles ist gut, sind die Leute komplett verwirrt.“
Biographie
Mein Name ist Olcay, ich bin 33 Jahre alt und bin in einer kleinen Stadt im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen. Ich habe einen türkischen Migrationshintergrund und meine Familie ist muslimisch. Über Sexualität oder gar Homosexualität wurde bei uns nie offen gesprochen, dies hat aber weniger mit dem Glauben zu tun. Vielmehr ist es eine traditionelle Sache. Doch wenn über Homosexuelle gesprochen wurde, dann waren das oft negative Äußerungen. Auch in der Schule habe ich schon früh schlechte Erfahrungen gemacht bevor ich überhaupt wusste, was Homosexualität ist. Ich wurde nicht direkt gemobbt, aber in Streitigkeiten oft als „Schwuchtel“ oder „Mädchen“ bezeichnet. Das waren für mich Erinnerungen, die ich unterschwellig gesammelt habe und die mir gesagt haben: „So darf ich nicht sein. Das ist nichts Gutes“. Ich denke, ich habe schon immer gewusst, dass ich homosexuell bin, wollte es aber nicht wahrhaben und so musste ich schon früh abschätzen und entscheiden, ob ich entweder meine Homosexualität und damit mich selbst leugne oder mich oute und damit aber riskiere meine Familie und mein soziales Umfeld zu verlieren. Das war für mich zu dieser Zeit undenkbar und so habe ich in der Zeit der Pubertät und danach alles versucht, nicht homosexuell zu wirken. Das lief ganz gut bis ich 17 Jahre alt war. Dann, in der Zeit des Abiturs war meine erste Krise, mein erster Bruch.
Erster Bruch und Flucht in die Religiosität
In dieser Zeit fingen die Leute in meinem Umfeld an die ersten richtigen Beziehungen zu führen. Ich wusste dann nicht wohin mit mir, denn ich konnte nicht die Beziehung führen, die ich mir insgeheim gewünscht habe. Da begann meine Krise und ich sagte mir, dass ich diese Gefühle noch besser bekämpfen muss, um ein besseres Leben zu haben und habe mich dann in die Religion gestürzt. Meine Eltern sind zwar muslimisch, jedoch nicht praktizierend gewesen. Ich wusste von klein auf, dass wir Muslime sind und dass es einen Gott gibt, doch richtig angefangen muslimisch zu leben und mich mit der Religion zu befassen, habe ich erst als ich versuchte damit meine Homosexualität zu bekämpfen, denn im Islam ist Homosexualität verboten, zumindest wurde es so an mich herangetragen, was ich heute nicht mehr glaube. Ich bin dann in eine Phase meines Lebens gekommen, in der ich sehr religiös war. Ich habe fünfmal am Tag gebetet, habe gefastet und bin auf eine Pilgerreise nach Saudi Arabien (Mekka und Medina) gegangen. Mein Vater wollte das alles überhaupt nicht. So habe ich versucht, je mehr ich gebetet und die Religion praktiziert habe, mehr von der Homosexualität wegzukommen. Deshalb fing ich auch an Religionswissenschaften zu studieren. Der volkstümliche Glaube hat mir nicht mehr gereicht und ich wollte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Religion. Ich bin also nach Frankfurt gezogen und hatte viel Kontakt zu anderen muslimischen Menschen, die auch islamische Religionswissenschaften studierten. Das waren tolle Menschen, mit einigen habe ich bis heute Kontakt, aber ich konnte mich nie ganz mit ihnen identifizieren. Ich war einfach anders.
Coming Out
Im Studium war alles super, ich hatte bald meinen Abschluss, aber ich habe gemerkt, dass persönlich nichts vorwärts ging. Es entwickelte sich nichts weiter, weil eine Sache, die ich in welcher Form auch immer, nicht ausleben konnte, in meinem Leben ungeklärt war. Sexualität ist für mich eine der wichtigsten Identitäten des Menschen und die nicht leben zu können, war für mich ganz schwierig. In dieser Phase habe ich „Prayers for Bobby“ gesehen, einen Film über die wahre Geschichte von Bobby Griffith, einem jungen schwulen Mann, der aufgrund der religiösen Intoleranz seiner Mutter und seines Umfelds Suizid begeht. Damit konnte ich mich identifizieren und ich dachte mir, das kann es nicht sein und so begann mein Coming Out. Erst bei Freunden von denen ich teils überraschte, teils verwirrte, aber insgesamt positive Reaktionen bekam, dann bei meiner Familie. Meine Freunde waren eine sehr große Unterstützung für mich, deswegen haben sie immer noch einen hohen Stellenwert und begleiten mich in meinem Leben. Für mich war es auch sehr wichtig kein Doppelleben zu führen, denn dazu habe ich eine zu enge Bindung zu meinen Eltern und meiner Familie. Und so nahm ich all meinen Mut zusammen und erzählte meiner Mutter von meiner Homosexualität. Am Anfang herrschte viel Unverständnis und meine Eltern versuchte einen Schuldigen dafür zu finden, aber für mich war damals klar, dass ich eine mögliche Ablehnung meiner Eltern akzeptieren würde, denn ich hatte mich ganz bewusst für diesen Schritt entschieden. Doch mit der Zeit, und auch vom Rest meiner Familie, überwogen die positiven Reaktionen zu meinem Coming Out. Das hat mich sehr gestärkt. Meine Familie ist sehr stark in die türkische Community eingebunden und auch der Zusammenhalt unter uns war sehr stark, weshalb ich nicht nur für mich alleine denken konnte. Mit Ablehnung von meiner Familie konnte ich umgehen, aber meine große Angst war, dass meine Familie wegen mir und meiner Homosexualität Ablehnung erfahren könnte. Ich habe mich damals oft gefragt, warum ich gerade in einer türkischen Familie und nicht in einer deutschen Familie leben musste. Ich habe die Kulturen auch oft in Gut und Böse eingeteilt. Die, die schwule Menschen akzeptieren und die, die sie nicht akzeptieren. Doch später, im Zuge meiner Arbeit, wurde ich eines Besseren belehrt.
Projektarbeit und Schritt in die Öffentlichkeit
Nach Abschluss meines Studiums fing ich an in einer Unterkunft zu arbeiten, die asylsuchende Menschen unterstützt. Kurz darauf habe ich dann eine Stellenausschreibung für einen Koordinator des Projekts „Andrej ist anders und Selma liebt Sandra – kultursensible sexuelle Orientierung“ in die Hände bekommen. Als ich mir die Beschreibung durchlas, dachte ich mir, das passt perfekt zu mir und zu dem, was ich in Zukunft machen möchte. Die Entscheidung, mich und meine Homosexualität in die Öffentlichkeit zu stellen, für die Rechte von homosexuellen Menschen zu kämpfen und in solchen Projekten zu arbeiten, war für mich sehr wichtig. Doch ich hatte Lust darauf und arbeitete dann als Leiter des Projekts. So konnte ich meine persönlichen Erfahrungen und das Wissen aus meinem Studium in meine Arbeit einfließen lassen und so Menschen Unterstützung und Hilfestellung bieten, die das gleiche erlebten wie ich. Ich wollte ihnen zeigen, dass sie nicht allein sind, denn ich habe mich damals oft sehr einsam gefühlt und mir hätte ein solches Projekt sehr geholfen. In der Arbeit und den Gesprächen mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben wir gemerkt, dass das Problem nicht die Religion an sich ist, sondern die Gegebenheiten in der Familie und dem Umfeld der Jugendlichen. Wenn die Familie patriarchisch aufgestellt ist, wenn Gewalt legitimiert wird, wenn Traditionen sehr streng gelebt werden und keine Integration stattfindet, dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass Ablehnung gegen Homo- oder Transsexualität herrscht. Um welche Religion es sich dabei handelt, spielt dabei keine Rolle. Dann kommt es natürlich auch immer auf die Auslegung der jeweiligen Religion an. Mittlerweile gibt es viele inklusive und progressive Menschen im Islam, die dahingehend Forschung betreiben und sich zusammenschließen, was mich sehr erfreut. Nochmal zusammengefasst bin ich der Meinung, dass nicht Religion an sich das Problem ist, sondern wie aufgeklärt deren Ansichten und Vorstellungen sind. Ich bekenne mich auch immer noch selbst zum Islam und sage, dass ich Moslem bin, obwohl ich dafür von vielen muslimischen Menschen angefahren werde, weil das doch nicht zusammen passen würde. Gleichzeitig bekomme ich aus der LGBT-Community oft zu hören, wie ich muslimisch sein kann, obwohl das eine Religion ist, die mich wie ich bin ablehnt. Ich werde von beiden Seiten immer in Situationen gesteckt, in denen ich mich rechtfertigen muss, was ich nicht einsehe, da ich weder die eine Identität, noch die andere ablegen möchte. Für mich stehen der Mensch, Barmherzigkeit und das Gute im Mittelpunkt. Religion muss dem Menschen dienen und nicht andersherum. Wenn ich mir auf der Basis der islamischen Lehre die Abschlussrede des Propheten Mohammed anhöre, in der es heißt „Kein Mensch ist dem Anderen in Ethnie, Religion oder anderen Dingen höher- oder untergestellt und ihr müsst euch gegenseitig respektieren und akzeptieren“, dann ist das der Glaube, hinter dem ich stehen kann. Ich denke auch, dass Islam, Christentum, Judentum usw. alle eins sind und einen Ursprung haben und ich sehe auch nicht die einen als Gläubige und die anderen als Ungläubige. So sehe ich die Welt nicht und so möchte ich die Welt nicht sehen, weil ich davon überzeugt bin, dass Gott uns alle gleich geschaffen hat und gleich behandeln wird. Das ist meine tiefste Überzeugung.