Bill
„Endlich kann ich leben, wie ich bin.“
Bill lebte sehr lange in den USA und war zwei mal verheiratet. Er entdeckte erst sehr spät seine Homosexualität.
Biografie
Mein Name ist Bill, ich bin im Jahr 1939 geboren. Nach der Schule und dem Studium habe ich viele Jahre als Lehrer gearbeitet und bin jetzt im Ruhestand.
Ich möchte zuerst ein bisschen was aus meiner Kindheit und Jugend erzählen. Dabei muss man bedenken, in welche Zeit und in welche Gesellschaft ich hineingeboren wurde. Meine Welt in der Kindheit und auch in der Jugend war hundertprozentig heterosexuell. Damals gab es für Schwule keine Bücher, Hefte, Informationen, geschweige denn Beratungsgruppen für Schwule oder Öffentlichkeitsarbeit. Ich interessierte mich aber sehr für Lexika mit griechischen und römischen Statuen drin. Das war alles, was du gekriegt hast. Es gab nichts anderes. Auch in Filmen war Homosexualität ein absolutes Tabuthema. Außerdem war Homosexualität damals verboten und galt als Krankheit. Ich bin nicht auf die Idee gekommen, dass es außer Heterosexualität vielleicht noch etwas Anderes geben könnte. Aber soweit ich zurückdenken kann, hatte ich in der Kindheit und Jugend immer das Gefühl, anders als die Anderen zu sein, aber ich bin nie darauf gekommen, was „anders“ war. Ich habe in diese Welt irgendwie nicht ganz hineingepasst. Wenn ich so an meine Schulzeit zurückdenke, war ich vielleicht etwas naiv. Damals hieß es, dass sich zwei Lehrer oder zwei Lehrerinnen aus finanziellen Gründen zusammen eine Wohnung geteilt hätten, weil Lehrkräfte in den USA nicht gut bezahlt wurden. Das haben wir einfach geglaubt. Aber die waren sicher schwul oder lesbisch. Auch in Hinblick auf meine Schulkollegen. Da waren bestimmt einige, die schwul, lesbisch oder auch bisexuell waren, aber das war für mich nie Thema. Ich habe mindestens zwei Cousins, die schwul sind und eventuell eine Cousine, bei der ich mir vorstellen kann, dass sie lesbisch war. Wir waren insgesamt dreißig Enkelkinder von meinen Großeltern, davon drei schwul und eine eventuell lesbisch. Damals habe ich das aber nicht gewusst. So war eben die Welt für mich nach Außen hin total heterosexuell.
Erst im Studium habe ich gemerkt, dass Männer Sex miteinander haben können. Allerdings kam ich noch nicht auf die Idee, dass es sich dabei um eine Lebensform handeln könnte. Das kam mir einfach viel zu weit weg vor. Man hatte zwar seine Abenteuer, aber lebte trotzdem heterosexuell. Und angepasstes Kind, das ich war, habe ich schließlich getan, was Familie und Gesellschaft erwarteten und habe geheiratet. Andererseits wollte ich, auch ohne diese Erwartungshaltung, schon immer eine Familie gründen und Kinder haben. Außerdem habe ich die Vaterrolle sehr genossen, bin da echt voll aufgegangen. Ich liebe meine Kinder und ich möchte sie nicht missen. In den Jahren, in denen ich verheiratet war, war ich so beschäftigt mit Familie und Beruf, dass ich für mich selbst im Grunde genommen keine Zeit hatte. Ich war einfach ausgelastet. Es lief auch alles gut, wir kamen finanziell über die Runden, wir waren alle gesund, und trotzdem war ich irgendwie unzufrieden, wenn ich mal eine Pause von all den Pflichten hatte. Aus damaliger Sicht war ich natürlich unzufrieden mit allen Anderen und nicht mit mir und habe das auch ausgestrahlt. Schließlich ging meine erste Ehe auseinander. Nachher habe ich erneut geheiratet.
Coming-Out in der Familie
Meine zweite Frau und ich haben uns auf gewissen Ebenen gut verstanden, aber wir hatten auch ganz schwere Konflikte. Allmählich spürte ich in mir einen unheimlichen Druck. Ich kam mir vor wie ein Schnellkochtopf, der so viel Druck hatte, dass er kurz davor war, in Fetzen auseinander zu fliegen. 1991 hatte ich dann ganz plötzlich mein Coming-Out. Anschließend stand ich total neben mir. Ich hatte das Gefühl, frei im Raum herum zu schweben. Ich hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, hatte keinen Halt mehr. Es war nicht unangenehm, aber schon sehr merkwürdig, weil jede Orientierung fehlte. Und dann musste ich anfangen, mich neu zu orientieren. Trotz Coming-Out dachte ich am Anfang, ich könnte weiter heterosexuell leben und mir nach und nach diese andere Seite in mir anschauen. Doch das ging nicht lange gut, denn als ich angefangen habe, Sex mit Männern zu haben, merkte ich, was mit mir los war. Ich konnte dann vergleichen, wie ich auf Frauen und auf Männer reagiere und da war für mich klar: „Ich bin schwul!“ Diesen Satz konnte ich damals nicht mal sagen. Das Wort schwul hatte ich nie ausgesprochen. Und es war für mich unvorstellbar, mich selbst so zu bezeichnen. Inzwischen kann ich das gut.
Es ging nicht lange bis ich mich trennte. Rückblickend auf meine Biografie war das für mich ein notwendiger Schritt beim Coming-Out. Jedenfalls kam ich dann an einen Punkt, an welchem ich mich entscheiden musste. Und meiner Meinung nach gibt es in dieser Situation keine gute Entscheidung. Wenn ich weiterhin heterosexuell gelebt und mehr oder weniger ein Doppelleben geführt hätte, hätte ich nicht nur mich selbst und meine Familie betrogen, sondern alle Menschen in meinem Umfeld. Ich hätte etwas vorgespielt, was ich gar nicht bin. Und das ist kein Leben. Schließlich habe ich mich dafür entschieden, meine Ehe aufzulösen, nochmal neu anzufangen und dadurch habe ich auch allen anderen einen Neuanfang ermöglicht. Es war nicht einfach. Zuerst bin ich aus dem Schlafzimmer ausgezogen. Ich bin morgens aufgewacht, wollte einen Mann in den Arm nehmen, doch da lag eine Frau. Ich konnte mit meiner Frau nur noch Sex haben, wenn ich die Augen schloss und an einen Mann dachte. An dem Punkt habe ich mir gesagt: „Nein! Das ist zu pervers! Das muss aufhören!“ Daraufhin bin ich aus dem Schlafzimmer ausgezogen, wir haben uns innerhalb der Wohnung getrennt. Es war schon hart, gemeinsam unter einem Dach zu wohnen, obwohl im Grunde genommen so eine Mauer dazwischen war. Aber dann haben wir uns räumlich getrennt und ich konnte endlich wieder aufatmen und neu anfangen. Ich habe diese Trennung nie bereut. Es gehörte einfach zu meiner Entwicklung. Viele Leute fragten mich, ob ich es nicht bereue, mich so spät geoutet zu haben, doch ich habe die Zeit gebraucht, bis ich soweit war, dass ich diesen Schritt gehen konnte. Darum bereue ich es in keiner Weise.
Meine Kinder sind alle aus erster Ehe und leben alle in Deutschland. Ich hab sie natürlich nach und nach eingeweiht. Meine älteste Tochter geht inzwischen sehr locker damit um. Ich kann mit ihr über das Thema reden, zwar nicht über Einzelheiten, aber ich frage sie schließlich auch nicht, was sie im Bett macht. Meine zweite Tochter hat es zur Kenntnis genommen, aber möchte nichts davon wissen. Ich glaube, es ist ihr peinlich, einen schwulen Vater zu haben. Mein Sohn war in der Pubertät als er es erfahren hat und hatte anfangs seine Schwierigkeiten, weil er noch mit seiner Sexualität gerungen hat. Er war nicht gefestigt. Wir reden nicht viel darüber, aber ich denke, es hat ihn ein bisschen verunsichert. Doch inzwischen hat er hat keine Probleme mehr damit. Allerdings hatte ich in dieser ganzen Zeit keinen festen Freund, mit dem ich zu irgendwelchen Familienfeiern oder an Festtagen aufgekreuzt bin. Von daher war es für meine Kinder alles sehr theoretisch, denn sie wurden nie direkt damit konfrontiert.
Seither habe ich ein paar Freundschaften gehabt, aber nie eine feste Beziehung und auch nie eine Beziehung, in der ich zusammen mit einem Mann gelebt habe. Eigentlich wünsche ich mir eine Beziehung, allerdings keine geschlossene, weil ich realistisch bin. Ich hab zu lange promisk gelebt. Eine monogame Beziehung ist nichts für mich. Ich würde das, ehrlich gesagt, nicht lange aushalten. Außerdem wäre ich sehr vorsichtig mit dem Zusammenleben. Ich lebe schon fast zwanzig Jahre alleine und bin es einfach gewohnt, in meiner Wohnung zu schalten und zu walten wie ich will. Natürlich freue ich mich über Gäste, die auch mal ein oder zwei Tage bleiben, aber ich bin auch froh, wenn ich alleine bin. Deshalb stelle ich mir eher eine Beziehung mit zwei getrennten Wohnungen vor. Da behalte ich meine Freiheit und meine Selbständigkeit. Ich sehe diese Sache mit einer Beziehung sehr locker. Immerhin kann ich es nicht erzwingen. Wenn es passiert, ist es schön und wenn es nicht passiert, ist es auch okay. Ich kann gut so leben, weil ich jetzt im Einklang mit mir bin. So wie ich bin, lebe ich auch und das ist unheimlich viel wert. Und eine Partnerschaft ist für mich, so schön sie wäre, eher zweitrangig.
Schwul im Alter
Die Altersgruppen mischen ist sehr schwierig, auch bei Heteros. Ich finde es okay, wenn Gleichaltrige Umgang miteinander haben. Ob das jetzt Gayromeo ist oder irgendeine schwule Einrichtung, ich würde mich nicht auf einen Mann unter 40 einlassen, weil es da zu wenige Gemeinsamkeiten gibt. Das hat nicht unbedingt etwas mit Sex zu tun. Die Jungen leben in einer ganz anderen Welt als die Alten. Bis ich 65 war habe ich als Lehrer gearbeitet und ich hatte in den letzten Jahren schon Schwierigkeiten mit den Schülern. Die waren jung genug, um meine Enkelkinder zu sein und haben auch in ihrer eigenen Welt gelebt. Es war einfach schwierig, den Kontakt herzustellen, weil ich von ihrer Lebenswelt keine Ahnung hatte. Ich denke, das ist die große Ausnahme, wenn zwei mit einem großen Altersunterschied zusammen kommen. Solche Ausnahmen gibt es aber.
Im Hinblick auf Respekt und Toleranz untereinander musste ich am Anfang auch lernen, mit Absagen umzugehen. Ich war, ehrlich gesagt, schon gekränkt, wenn jemand signalisiert hat, dass er an mir kein Interesse hatte. Andererseits möchte ich für mich ja auch entscheiden können, mit wem ich zu tun haben will und mit wem nicht. Deshalb muss ich dem Anderen dieses Recht ebenfalls zugestehen. Es kommt darauf an, wie man das signalisiert. Man kann nett und freundlich Nein sagen. Ich bin am Anfang viel in Clubs gegangen und hatte auch meinen Spaß daran. Inzwischen tue ich das äußerst selten, weil ich mir in meinem Alter die Chancen, jemanden kennenzulernen, nicht so günstig ausrechne. Ich muss mir das nicht antun, einen ganzen Abend zu investieren und es läuft nur auf Absagen hinaus. Ich habe andere Möglichkeiten. Ich habe zurzeit genug Kontakte und bin nicht auf die Jungen angewiesen. Die Frage ist: Wo fühle ich mich wohl? Gleich nach meinem Coming-Out hatte ich mir vorgenommen, mir Stück für Stück ein neues soziales Umfeld zu schaffen. Die sexuelle Orientierung spielt dabei nicht unbedingt eine Rolle. Alle Menschen brauchen ein soziales Umfeld. Und mir war klar, dass ich nicht in meinem bisherigen bleiben wollte, weil die Interessen zu verschieden waren. Ich habe seither so viele ungewöhnliche und interessante Menschen kennengelernt. Es ging dabei nicht um Sex, sondern einfach darum, neue Kontakte zu knüpfen, Gespräche zu führen usw. Das war für mich eine unheimliche Bereicherung. Aber natürlich passiert das nicht, wenn ich Zuhause sitze und warte, bis jemand an die Tür klopft. Ich muss schauen, was mich interessiert und wo ich mich engagieren möchte, rausgehen und etwas unternehmen, damit ich mir ein soziales Umfeld aufbauen kann. Und das muss jeder Mensch. Das hat weder mit dem Alter, noch mit der sexuellen Orientierung zu tun. Ich finde es seelisch gesund, damit die Leute nicht vereinsamen. Das kannst du als 100%iger Hetero genauso erleben, wenn du nichts dagegen tust.
Manchmal ärgere ich mich schon darüber, dass die Jungen die aktuellen Verhältnisse für selbstverständlich halten und sie nur genießen. Ich bekomme dann den Eindruck, die wollen nur Fun und außer dem gibt es nichts Anderes im Leben. Ich habe nichts gegen Partys, ich gehe schließlich auch auf Partys und tobe mich auch aus. Aber das Leben besteht nun mal nicht nur aus Fun, das ist mir zu einseitig, zu flach. Und zu glauben, dass die Zustände in Deutschland zementiert sind und ewig so bleiben werden, ist Illusion. In der Weimarer Republik hatten die Homosexuellen viele Freiheiten. Das endete schlagartig mit Beginn der Nazidiktatur. Man muss immer für die Rechte sexueller Minderheiten kämpfen. Aus diesem Grund mache ich meine Forschungsarbeit zu der NS-Zeit. Die Nazis wollten die Homosexuellen vernichten und auch die Erinnerung an sie. Das möchte ich verhindern und auch die Menschen heute wachrütteln, wachsam zu sein. Das heißt zwar nicht, dass ich nur politisch kämpfen muss, aber Spaß und Ernst des Lebens etwas ausbalanciere.